Kritik an der Erweiterung der Notbetreuung und Lösungsvorschlag

Lesezeit: 5 Minuten (sorry, aber es musste alles gesagt werden!)

Liebe Frau Scheeres, (und zur Kenntnisnahme an alle Entscheidungsträger aller Bundesländer),

 

Wenn ich ehrlich bin, platzt mir gerade der Kragen. Ich werde dennoch versuchen, sachlich und höflich zu bleiben und mich möglichst kurz zu fassen. Ganz so kurz wird es aber nicht sein, denn die Anzahl an Denkfehlern, die gerade ans Licht kommen, ist enorm und jeder Fehler ist es wert, tatsächlich einzeln berücksichtigt zu werden.

Worüber ich mich gerade aufrege?

Über den Rahmen der geplanten Erweiterung der Notbetreuung in Kitas und Schulen.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich habe kein Problem damit, morgen zur Arbeit zu gehen. Ob ich an Corona, Krebs oder bei einem Unfall demnächst sterbe, macht keinen großen Unterschied. Ein paar ungesunde Gewohnheiten von mir machen die letzten zwei Optionen sogar wahrscheinlicher.

Woran ich mich weigere zu sterben, ist an der UNFÄHIGKEIT von Entscheidungsträgern, die aktuelle Krise sachlich zu bewältigen. Sollte das geplant sein, sehe ich mich gezwungen nach einem anderen Job zu suchen und endgültig von der Sparte der Kinderbetreuung Abschied zu nehmen. Langsam reicht es mir wirklich!

Wird stattdessen über den Tellerrand hinaus und wirklich im Sinne einer Bewältigung der aktuellen Krise nachgedacht, dann stehe ich dem System gerne zur Verfügung. Gerne auch weit über die Verpflichtungen hinaus, die aus meinem Arbeitsvertrag resultieren!

Nun zu den Fakten:

Auf der Internet-Seite des Berliner Senats ist zu lesen:

„Künftig gilt, dass in einigen dieser ausgewählten Berufsgruppen nurmehr ein Elternteil dort tätig sein muss. Damit sollen besondere Härtefälle künftig vermieden werden.“

Ich nehme jetzt ein konkretes Beispiel zu Hilfe, um Konstellation und mögliche Maßnahmen zu erläutern.

Frau Musterdings ist Verkäuferin, 30 Jahre alt. Sie verdient 1400 € Netto im Monat.
Herr Musterdings ist Facharbeiter für Irgendwas, 35 Jahre alt und verdient 2300 € Netto in Monat.
Die Beiden haben zwei Kinder: Kleinmusterdings (4) und Großmusterdings (7).

[Fehler 1,2 u 3: Genderspezifische Berufswahl und Aufstiegsmöglichkeiten, Gender Pay Gap und schlechte Bezahlung systemrelevanter (ja, wir haben es entdeckt!) Berufe]

Alle vier sind gesund und halten sich an die aktuellen Empfehlungen des RKI.

Seit dem 17.03. haben die Beiden keine Kinderbetreuung mehr. Frau Musterdings ist zuhause geblieben und hat sich um die Kinder gekümmert. Wäre Herr Musterdings bei den Kindern geblieben, hätte den Beiden 2/3 an Einkommen gefehlt. Ein eindeutiger Härtefall also.

Frau Musterdings wird jetzt dringend im System gebraucht.

Lösung vom Senat: Notbetreuung - Kleinmusterdings kommt in die Kita, Großmusterdings in die Schule. Herr Musterdings kann wieder arbeiten.

Auswirkung aus epidemiologischer Sicht (Hier nur 1 „Kette“ dargestellt):
Frau Musterdings begegnet beruflich bedingt 500 Menschen am Tag. Entsprechend hoch ist eine Ansteckungsgefahr. Sie überträgt die Viren an ihre Kinder, die diese unbemerkt an 10 weitere Kinder und 4 Betreuer*innen weiterreichen. Aus einem System, das betroffen ist, werden in direkter Instanz (und kurzer Zeit!!!) also 14. Was das bedeutet, lässt sich anhand des Bildes im Anhang ahnen.
Nebenbei bemerkt, es dauert nicht lange, bis es zum ersten erklärten Fall in der Kita und/oder Schule kommt und schon wird der Laden ganz dicht gemacht und die vorgeschlagene Lösung erweist sich als nutzlos.

[somit Fehler 4 und 5!]

In einem Kommentar auf Facebook fragt der Berliner Senat nach einer Alternative:
„Was ist bitte die Alternative? Ärzten, Pflegepersonal, Polizisten usw. es erschweren, ihren dringend notwendigen Beruf auszuüben? Die Notbetreuung ist ein Instrument, um hier dringend benötigtes Personal sicher zu stellen. Und ja, viele Lebensbereiche sind aktuell auf das vernünftige Handeln der Menschen in unserer Stadt angewiesen.“

Und spätestens hier kriege ich richtig Wut!

Die Alternative? Ganz einfach:

Frau Musterdings geht arbeiten und Herr Musterdings bleibt bei voller Bezahlung bei den Kindern.

Auswirkung aus epidemiologischer Sicht:
Sollte sich Frau Musterdings bei der Arbeit anstecken, bringt sie das Virus in ein ziemlich geschlossenes Familiensystem. Bedingt durch Alter und körperlicher Verfassung, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie die Krankheit ohne Intensivtherapie überstehen werden und somit später zu der Herdenimmunität beitragen.

Wäre doch gut, oder?

„Das geht doch gar nicht“, werden Sie sagen. „Herr Musterdings zuhause? Bezahlt? Das geht nicht!“
Ich sehe es anders.

Im Grundgesetz steht (Art 6 Abs. 2 GG) „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“
Gibt man den Eltern dieses Recht und diese Pflicht, dann muss man sie auch in die Lage versetzen, ihr Recht auszuüben und ihrer Pflicht nachzukommen. Institutionelle Kinderbetreuung SOLL die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen und NICHT Rechte und Pflichten der Eltern ersetzen.

[Fehler 6]

Deshalb meine klare Forderung für sofort und für die Zeit nach Corona:

Kann eine institutionelle Kinderbetreuung nicht sichergestellt werden, dann tritt §616 BGB in Kraft, und zwar so lange wie das nötig ist.

„Der zur Dienstleistung Verpflichtete wird des Anspruchs auf die Vergütung nicht dadurch verlustig, dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird.“ (§616 BGB S. 1)

Ich möchte den Richter sehen, der herausfinden will, was „verhältnismäßig“ und „erheblich“ ist, in einer noch nie dagewesenen Situation!

Also: Lohnfortzahlung bei fehlender Kinderbetreuung. Punkt!

Können die Arbeitgeber das nicht stemmen, dann muss über einen Umlagefonds nachgedacht werden.

„Das wird uns arm machen“, werden sie erwidern. Ja, sicher. Aber lieber arm als tot! Oder?

Die ganze Corona-Geschichte wird uns arm machen. Damit sollten wir uns abfinden. Je früher wir es realisieren, umso früher können wir mit dem „Wiederaufbau“ anfangen. Die, die jetzt sterben, haben es schon erlebt. Für uns ist es Neuland, aber wir werden es auch überleben. Selbst wenn uns 70-80% von dem, was wir haben, wegfallen, wären wir immer noch besser dran, als aktuell der größte Teil der Weltbevölkerung. Ein guter Zeitpunkt, über Vieles nachzudenken.

Also, Zuversicht ist angesagt! Und aus Fehlern lernen! Glauben Sie mir, wenn ich von Fehlern rede, weiß ich aus erster Hand, wovon ich rede!

Bei uns, in Italien, gibt es ein Sprichwort: „Solange wir am Leben sind, gibt es Hoffnung“.
In diesem Sinne: Es liegt an uns zu vermeiden, dass demnächst Hoffnung mit grünen LKWs weg transportiert wird.

Denken Sie nochmal darüber nach!

Ich wünsche Ihnen viel Kraft!
Mit freundlichen Grüßen
Bruno Capra